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Stand: online seit 02/01


Ref.jur. Hanno Durth, Darmstadt

Kommentar:
,,Das Netz bin ich`` - Rechtsetzung im Internet

Im letzten Heft von ius-it.de fanden sich Überlegungen zum Internet als Rechtsquelle. Diese Überlegungen sollen hier fortgeführt werden. Ausgangspunkt ist, dass es innerhalb des Internets keine gesetzgebenden und auch keine rechtsprechenden Instanzen gibt bei gleichzeitigem Bedarf an Recht. Woher stammt dieser Bedarf an Recht?


Er gründet im Drang, seine Zukunft zu planen und darauf gründend Dispositionen über sein Leben zu treffen. Wenn es gelingt, bestimmte Ereignisse in der Zukunft wahrscheinlicher zu machen als andere, dann kann man darauf aufbauend Entscheidungen treffen, die für eine noch weitere Zukunft wiederum bestimmte Ereignisse wahrscheinlicher machen als andere. Die an sich unsichere Zukunft wird hierdurch voraussehbar und gestaltbar. Für die eigene Lebensplanung ist dies kaum zu unterschätzen: man kann nun sparen und investieren, vorbereiten und genießen. Das eigene Leben gewinnt Struktur und aufgrund dieser strukturellen Sicherheit können dann auch ganz neue Unsicherheiten gewagt werden.


Die sichere Voraussicht in die unsichere Zukunft kann auf zwei Wegen erreicht werden: durch kognitives und normatives Erwarten.1 Kognitiv erwartet man, wenn man auf Grund eigener Erfahrung an Erwartungen festhält: wenn man die Erdanziehungskraft an drei Kristallgläsern erfahren hat wird man davon ausgehen, dass sie auch bei einem vierten Glas weiterhin wirken wird und dieses dann lieber sicher auf einem Tisch abstellen. Hingegen erwartet man normativ, wenn man entgegen eigener Erfahrung an bestimmten Erwartungen festhält: obwohl man weiß, dass es so etwas wie Geisterfahrer gibt, richtet man sich in seinem Fahrverhalten nicht jede Sekunde erneut auf ein entgegenkommendes Fahrzeug aus.


Das Recht wird insbesondere von normativen Erwartungen geprägt. Die Funktion des Rechts ist es, trotz einer widersprechenden Realität an bestimmten Erwartungen festhalten zu können. Es hat soziale Konsequenzen, wenn Erwartungen durch Normen gegenüber der ihnen widersprechenden Wirklichkeit zeitstabil gesichert werden können. Die sichere Vorstellung von Zukunft ist eine extrem labile Konstruktion, und das Recht dient dazu, diese zu stabilisieren. Durch Normierung wird Sicherheit in den Bereichen erzeugt, in denen Realität keine ausreichende Kontrolle bieten kann; also in Gebieten, in denen die Kognition, also die Erwartung des Erfahrenen, nicht weiterhilft. Die Norm verspricht damit nicht ein normgemäßes Verhalten, sie schützt aber denjenigen, der dies erwartet: Indem diejenigen, die gegen diese Erwartungen verstoßen diskriminiert werden, zwingt man sie zur Adaption der Norm. Man kann sich in höherem Maße riskantes Vertrauen leisten, wenn man dem Recht vertraut, und kann dadurch andere Mechanismen der Vertrauenssicherung, etwa zwischenmenschlicher Natur, ersetzen.


Ein erster Schritt von kognitiven zu normativen Erwartungen vollziehen die Netiketten. Die Verfasser der Netiketten verstehen darunter in ,,Benimm-Regeln`` gefasste Sitten und Gebräuche im Internet. In Anlehnung an Etikette formuliert, sind sie der Ruf nach bestimmten Kommunikationsspielregeln im Netz (z.B.: ,,Fasse Dich kurz!``, ,,Sei höflich!``, etc.). Etymologisch versteht man unter Etikette die Gesamtheit der festgelegten gesellschaftlichen Umgangsformen. Die aus dem französischen übertragene Bedeutung ergab sich aus der Tatsache, dass das Zeremoniell der bei Hof geübten gesellschaftlichen Formen auf einem ,,Zettel`` (Etikett) genau festgelegt und beschrieben war. Sie gaben auf diese Weise der ständischen Gesellschaft ihre Struktur und Sicherheit. Daher kam es auf stetige Wiederholung dieser eingeübten Abläufe und der Sanktionierung ihrer Verstöße an. Diese Regeln ließen die Ungleichheit des Ranges der jeweiligen Personen nach außen hin sichtbar werden. Diese Ungleichbehandlung basierte aber nicht auf Leistungen, sondern auf Privilegien. Der Vorteil von Etiketten ist zugleich ihr Nachteil: sie sind nicht wertbezogen. Sie wollen nicht das Gute oder das Gerechte verwirklichen, sondern nur - aber immerhin - einen bestimmten Ritus der Kommunikation festschreiben. Hof und Höflichkeit sind nicht zu trennen. Für einen überschaubaren und hierarchisch geordneten Personenkreis lässt sich eventuell so arbeiten, aber für die egalitäre Struktur des Netzes erscheinen Etiketten langfristig als ein unterkomplexer Lösungsansatz.


Recht hingegen ist in der Lage, hierüber hinaus zu gehen. Recht ruft dazu auf, gleiche Fälle auch gleich zu behandeln. Gleichheit ist ein Beobachtungsschema, das die Entwicklung von Normen und Präferenzen nahelegt, aber nicht selber schon die Präferenz für Gleichheit festlegt. Die Form der Gleichheit dient dazu auf Ungleichheiten aufmerksam zu machen, die ihrerseits im Rahmen der entdeckten Unterschiede gleiche Behandlung verdienen, bis auch diese Gleichheit wieder das Beobachten und Bezeichnen von Ungleichheiten nahelegt.2 Gleichbehandlung wird erwartet - Ungleichbehandlung ist begründungsbedürftig. Die Symmetrie der Rechtssubjekte ist das Ziel des Rechts. Dazu ist es notwendig, die Subjekte als Subjekte zu beschreiben, was wiederum heißt, ihnen eigene Identitäten zuzuweisen. Zwei verschiedene Identitäten können wiederum nicht gleich sein, so dass der Anspruch der Symmetrie abgeschwächt werden muss. Damit rückt die Person, nicht die Struktur in den Mittelpunkt des Rechts. Erst ein Band wechselseitiger Anerkennung der gleichberechtigten Subjekte unterscheidet das Recht von anderen Ordnungsversuchen.3 Das Recht markiert hier, dass man der Notwendigkeit ausgesetzt ist, sich auf einen unbekannten Anderen einzustellen, dessen soziale Bedingungen nicht erkennbar und nicht erratbar sind. Dies ist die normale Ausgangslage der Kommunikation im Internet.


Die Verbindung zwischen den beiden Subjekten kann nun auf zwei verschiedenen Wegen bestimmt werden. So kann man die Verbindung zwischen den Subjekten durch ein Drittes bestimmen: das Dritte, zum Beispiel eine gemeinsame Aufgabe, bindet dann die Subjekte aneinander. Dies ist ein Weg den insbesondere die Gesetzgebung wählt, wenn sie die Subjekte zur Regelung eines problematischen Sachverhalts zueinander in Bezug setzt. Das Subjekt wird dann inhaltlich durch den Geist des Gemeinsamen bestimmt, der durch das Subjekt und in ihm verkörpert wird. Damit ist der ,,Andere`` aber auch nur insoweit Subjekt, wie in ihm das Gemeinsame zum Tragen kommt, auf dessen Definition er wiederum kaum Einfluss hat. Diejenige Aufgabe, die von anderen als gemeinsame festgesetzt wird, soll das Individuum bestimmen. Die Konstruktion des Subjekts findet außerhalb des Subjekts statt. Die Anerkennung des Anderen ist verschwunden. Das Subjekt muss aber seinen Subjektscharakter behalten und das Besondere darf nicht im Allgemeinen aufgehen, sollen Vergleiche möglich werden. Die Definition des Subjekts hat daher vom Subjekt selbst auszugehen. Es gehört dann zu den Strukturbedingungen des Rechts, dem Individuum Freiräume zu schaffen, in denen es sich selbst beschreiben, sich selbst eine Identität geben kann. Das Internet bietet hierzu eine bisher nie dagewesene Chance. In dem sich die Nutzer des Netzes als Gleiche begegnen und eine über sie entscheidende Instanz nicht ersichtlich ist, sind sie gezwungen einander zuzuhören. Der andere muss anerkannt werden, obwohl man erst einmal nicht weiß, wer er ist.


Erst einmal hat jedes Individuum ein Recht auf seine Sicht der Dinge, auf seine Erzählung. Dies mutet jedem Beteiligten ein hohes Maß an Unsicherheit zu. Erst wenn der neue Fall gehört wurde, kann er als ein altes rechtliches Problem identifiziert werden. Dazu ist es notwendig die beiden Selbstbeschreibungen der Individuen auf ihren rationalen Gehalt hin abzugleichen. Dies geschieht über Prinzipien.4 Prinzipien resultieren aus dem Vergleich mit anderen Rechtsentscheidungen. Prinzipien erlauben es, stringente Erzählungen und Problemfelder zu entwerfen, die die Grundlage der Rechtsentscheidungen bilden. In Prinzipien haben sich Werte und Begriffe durchgesetzt und sedimentiert, die mehr oder weniger lesbar sind, die aber auf alle Fälle für sich, bis zum Beweis des Gegenteils, eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Verwirklichung von Gerechtigkeit beanspruchen können.


Recht ist damit auf Kollision und Konflikt einzustellen. Die verschiedenen Erzählungen müssen auf ihre Stimmigkeit überprüft und in ihrem rationalen Kern gegenübergestellt werden. Recht ist damit zur Vielsprachigkeit gezwungen: es muss die jeweilige Erzählung dem Gegenüber übersetzen. Damit wird zugleich von einer höheren Instanz auf eine gleichgeordnete Ebene der Vermittlung umgestellt. Recht ist dann mehr Fallrecht als Gesetzgebung. Die Rationalitätskollisionen können nicht mehr hierarchisiert, sondern nur noch koordiniert werden. Zuhören und Nachvollziehen werden nun zu Schlüsselkompetenzen. Recht ist nun davon abhängig, wie verständlich es ist: wie gut es andere versteht und wie gut es sich erklären kann. Recht zwingt als Übersetzer die betroffenen Parteien zur Anerkennung der jeweiligen fremden Rationalität. Es dient der Koordination der verschiedenen rational wirkenden Autonomien. Recht dient auf dieser Weise der Selbstorganisation der Gesellschaft unter Vermeidung von Trittbrettfahrereffekten der Politik oder der Wirtschaft. Diese Form des Rechts gibt den Kommunikationspartnern ihre Verantwortung für einander zurück. Für das Individuum bedeutet dies fortwährendes Lernen. Es ist zugleich Autor und Adressat des neuen Rechts - das Netz bin ich!



Fußnoten
1
Im weiteren wird auf die Systemtheorie Luhmanns Bezug genommen, siehe anstatt vieler Stellen nur Recht der Gesellschaft, Frankfurt 1993, S. 80 ff..
2
Luhmann, Recht S. 111
3
Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Auflage, Frankfurt 1992, S. 117 und 274
4
Siehe hierzu Cornell, Vom Leuchtturm her: Das Erlösungsversprechen und die Möglichkeit der Auslegung des Rechts, in: Anselm Haverkamp (Hrsg.) Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida - Benjamin, S. 60 ff., Frankfurt 1994